百闻不如一见 „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“
Ich liebe puzzeln. Mein Vater und ich haben in meiner Kindheit tagelang den Wohnzimmertisch blockiert und in höchster Konzentration Stunde um Stunde die Puzzleteile sortiert, verglichen und zusammengesetzt. Am schwierigsten waren die Puzzles, von denen wir die Vorlagen verloren hatten. Kein Wunder also, dass ich mich von klein auf für China interessiert habe: ein Buch mit sieben Siegeln oder eben ein Puzzle mit Tausenden von Teilen. Die Hälfte meines Lebens habe ich in China verbracht und meinen hessischen Ehemann in Peking kennengelernt. Unsere Kinder sind in Peking geboren und aufgewachsen. Und ich bin immer noch am Puzzeln: Jeden Tag füge ich meinem Chinabild ein neues Teilchen hinzu.
Der Vergleich des Puzzelns gilt für mich auch in Hinblick auf die chinesische Sprache. Mich hat die Andersartigkeit des Chinesischen fasziniert. Ich bin als Tochter eines deutschen Missionars Ende der 1970er bis Ende der 1980er Jahre in Tansania aufgewachsen. Kiswahili, Englisch, Schwedisch, Französisch – diese Sprachen habe ich in meinem schulischen und privaten Umfeld von Kindheit an gelernt. Aber Chinesisch? Die Schriftzeichen, der Satzbau, die Beschreibung von Ereignissen, das Darlegen von Argumenten oder Gefühlen: Alles wirkte wie ein riesiges Puzzle auf mich. Zum Glück eines mit Vorlage. Um Chinesisch zu lernen, habe ich immer versucht, Parallelen zu finden: Man wirft im Chinesischen zwar keine Perlen vor die Säue, spielt aber die Zither für das Rind.
求同存异 „Gemeinsamkeiten suchen und Unterschiede bestehen lassen“
Wenn ich mich mit den Themen „Gleichberechtigung“ oder „Kindererziehung“ beschäftigt habe, wurden beim näheren Kennenlernen aus vermeintlichen Gemeinsamkeiten doch Unterschiede und andersherum. So fand ich es als Physikerin ermutigend, dass es in China so viele Ingenieurinnen gibt. Und dass Chinesinnen schon kurze Zeit nach der Geburt wieder arbeiten gehen. Aber wenn man genauer hinschaut, dann gibt es für Frauen in China ganz ähnliche Probleme dabei, erfolgreich Karriere zu machen und Führungspositionen zu bekleiden, wie in Deutschland.
鹤立鸡群 „Herausragende Persönlichkeiten“
Aufgrund meines Lebenslaufes ist es nicht verwunderlich, dass ich menschliche Begegnungen und persönliche Erfahrungen für das wichtigste Element in den deutsch-chinesischen Beziehungen halte. Wenn ich mich umschaue, wer in den Firmen, Universitäten und Institutionen die deutsch-chinesische Zusammenarbeit gestaltet, dann sind dies oft Personen, die als junge Menschen im jeweils anderen Land studiert und gearbeitet haben. Förderorganisationen wie dem DAAD mit seinen zahlreichen Stipendien und Programmen kommen dabei eine zentrale Bedeutung zu.
Es ist ein Grundgedanke der Außenwissenschaftspolitik, dass akademischer Austausch ein Wegbereiter für engere Beziehungen zweier Staaten sein kann. Ein interessantes und in Deutschland wenig bekanntes Beispiel dafür ist Qiao Guanhua: Als einer der ersten chinesischen DAAD-Stipendiaten promovierte er von 1935 bis 1937 an der Universität Tübingen. Rund vierzig Jahre später ebnete er 1972 als chinesischer Vize-Außenminister gemeinsam mit Walter Scheel, dem damaligen deutschen Außenminister, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik den Weg.
人山人海 „Eine Flut von Menschen“
Die Statistik zeigt, wie wichtig gute diplomatische Beziehungen sind. Die Zahlen des akademischen Austausches sind in den vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen: von 4.500 chinesischen Studierenden in Deutschland 1996 auf über 40.000 im Jahr 2022. Entsprechend umfangreich ist das Netzwerk der Deutschland-Alumni in China und die Kenntnis in China über Deutschland. Dass diese Zahlen aber keine Selbstverständlichkeit sind, zeigt die traurige Erfahrung aus der Pandemie: Die Zahl der deutschen Studierenden in China, die vom chinesischen Bildungsministerium 2019 mit über 8.000 angegeben wurde, ist 2022 auf einige Handvoll mir bekannter Personen gefallen. In Deutschland geht berechtigterweise die Sorge um, dass wir die deutsch-chinesischen Beziehungen in Zukunft ohne ausreichende China-Expertise gestalten müssen.
Natürlich sind nicht nur individuelle Förderungen wichtig. Auch institutionelle Kooperationen, gemeinsame Zentren und Fakultäten werden benötigt, um mehr Breitenwirkung und Strahlkraft zu erzeugen. Gemeinsame Studien- und Doppelabschlussprogramme haben viele Vorteile. Man studiert einen Großteil der Zeit im Heimatland, macht aber internationale Erfahrung; die Kurse, die man im Ausland besucht, sind auf die Kurse an der Heimathochschule abgestimmt und man wird in der Regel an der Gasthochschule besser betreut. Das größte und sichtbarste deutsche Projekt in China ist die Chinesisch-Deutsche Hochschule (CDH) an der Tongji-Universität. Viele der besten technischen Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Deutschland sind daran beteiligt. Die Tongji-Universität selbst geht auf eine deutsche Gründung im Jahr 1907 zurück. Eine Besonderheit der CDH und ihrer Teilinstitutionen ist die praxisorientierte Ausbildung und das außerordentliche Engagement der deutschen und inzwischen auch der chinesischen Wirtschaft. Auch für deutsche Studierende sind die CDH und die dort angebotenen Studiengänge und Kurse sehr interessant.
“自食其果” „Man erntet, was man sät“
Große und langfristige Projekte brauchen viel Energie und viel Kommunikation. Zuständige Personen wechseln auf beiden Seiten. Das politische Umfeld und die Hochschulgesetze ändern sich. Ständig werden Anpassungen notwendig. Gleichzeitig müssen die gemeinsamen Interessen immer neu austariert werden. Das erfordert Geduld, Offenheit und ein Verständnis für den Partner. Wichtig ist aber auch, dass diese Projekte eine Zukunftsvision haben und die Motivation, sich weiterzuentwickeln.
Manchmal habe ich das Gefühl, mir ist für mein China-Puzzle die Vorlage abhandengekommen. An manchen Stellen zeigen sich nach 25 Jahren zudem Ermüdungserscheinungen. Ich finde nicht mehr die passenden Stücke, wahrscheinlich brauche ich eine neue Brille. Wie manche akademische Kooperationen, die angesichts der veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen neu justiert werden müssen, muss ich vielleicht meinen Blickwinkel ändern. So oder so ist das Allerwichtigste, eine neue Generation von Brückenbauerinnen und Brückenbauern auszubilden. Denn die Zusammenarbeit in der Wissenschaft ist in Zeiten des Klimawandels und anderer Menschheitsfragen unerlässlich. Wir brauchen China und China braucht uns. Als Partner.
Ruth Schimanowski (28. Februar 2023)
Der Beitrag ist zuerst erschienen unter deutsch-chinesisches-dialogforum.de.