“Das Potential bei der bisherigen Förderung international mobiler Wissenschaftlerinnen wird nicht ausgeschöpft”
Frau Löther, können Sie unseren Leserinnen und Lesern zunächst einmal kurz den Anlass und die konkrete Fragestellung Ihrer Studie erläutern?
Anlass für die Studie war die Unterrepräsentanz von Wissenschaftlerinnen in den Programmen der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2018 vergab die Stiftung knapp ein Drittel der Förderungen an Frauen. Mit der Studie wollte die Humboldt-Stiftung mehr über die Gründe der geringen Frauenbeteiligung in ihren Programmen erfahren und Handlungsimpulse erhalten, wie sie mehr exzellente Wissenschaftlerinnen für das Humboldt-Netzwerk gewinnen kann.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Befunde der Studie? Und sind diese aus Ihrer Sicht eher erwartungsgemäß ausgefallen oder überraschend?
Die Studie umfasst zwei Teile: Für eine Potentialanalyse auf der Nachfrageseite untersuchten internationale Expertinnen und Experten für 14 Schlüsselländer die Repräsentanz von Wissenschaftlerinnen sowie geschlechtsspezifische Qualifikations- und Karrierestrukturen, insbesondere in Hinblick auf internationale Mobilität. Für eine Defizitanalyse auf der Angebotsseite analysierten wir exemplarisch drei Programme mit einem Schwerpunkt auf dem Zugang zu den Programmen und der Durchführung der Forschungsaufenthalte.
Ein wichtiger Befund bei der Untersuchung der 14 Schlüsselländer ist, dass sich Faktoren wie eine niedrige Teilhabe von Frauen in Führungspositionen oder eine geschlechtsspezifische Studienfachwahl, die zu einem Ausschluss von Frauen aus der Wissenschaft führen, ähneln, jedoch mit spezifischen Ausprägungen in einzelnen Ländern. Familiäre Verpflichtungen sind – anders als häufig angenommen – keine wesentliche Ursache für eine geringere internationale Mobilität von Wissenschaftlerinnen. Und: Wenn familiäre Verpflichtungen als Mobilitätshindernis wirken, dann nicht nur als reales Hindernis, sondern bereits durch die Annahme, dass internationale Forschungsaufenthalte wegen familiärer Verpflichtungen für Frauen nicht möglich seien. Problematischer für internationale Mobilität ist allerdings häufig eher die Koordination von zwei Erwerbs- und Karrierebiographien als die Betreuung von Kindern. Entscheidend sind auch institutionelle Barrieren wie eine häufigere Beschäftigung von Wissenschaftlerinnen in Institutionen und auf Stellen mit geringeren zeitlichen und finanziellen Ressourcen für Forschung, die fehlende Kompensation für nicht forschungsbezogene Aufgaben an den Heimatinstitutionen oder der Verlust an lokalen Netzwerken nach längeren Forschungsaufenthalten, gerade bei Frauen auf unsicheren Karrierepositionen.
Überraschend deutlich zeigt der Vergleich mit Referenzdaten, das heißt Stipendien des European Research Councils und des DAAD für vergleichbare Personengruppen und Professuren in den Schlüsselländern. Demnach wird das Potential bei der bisherigen Förderung international mobiler Wissenschaftlerinnen nicht ausgeschöpft. So lag etwa der Frauenanteil bei den Humboldt-Forschungsstipendien im Untersuchungszeitraum 2010 bis 2019 bei 30 Prozent und beim Humboldt-Forschungspreis bei 11 Prozent. Eine positive Entwicklung ist hingegen, dass es bei den Auswahlquoten auch differenziert nach Wissenschaftsbereich oder Region kaum Geschlechterunterschiede gab.
Ein weiterer wichtiger Befund ist aus meiner Sicht, dass der Zugang zu den Programmen und damit die Phase vor der Bewerbung entscheidend ist, um mehr Wissenschaftlerinnen zu gewinnen. Unsere Studie konnte zeigen, dass dabei den Gastgebenden eine wichtige Rolle zukommt. Auffällig ist, dass in den drei untersuchten Programmen Frauen häufiger Frauen einladen bzw. nominieren und umgekehrt Männer häufiger Gastgeber von Männern sind. Gründe für diese überproportional häufige homosoziale Zusammenarbeit können die Frauen- und Männeranteile in den verschiedenen Fächern sein, es kann hier aber auch ein Bias bei der Wahrnehmung und Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen vorliegen.
Welche Schlussfolgerungen für die Praxis von Förderorganisationen wie der Alexander von Humboldt-Stiftung ergeben sich Ihrer Einschätzung nach auf Basis dieser Befunde?
Die dargestellte homosoziale Zusammenarbeit ist ein Ansatzpunkt für eine größere Teilhabe von Wissenschaftlerinnen: Männliche Gastgebende sollten motiviert werden, stärker Wissenschaftlerinnen als mögliche Stipendiatinnen wahrzunehmen und Wissenschaftlerinnen an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen könnten stärker als Gastgebende aktiviert werden.
Eine weitere Schlussfolgerung der Studie ist es, die Gleichstellungspolitik der Humboldt-Stiftung von der vorrangigen Adressierung der Wissenschaftlerinnen selbst zu lösen und stattdessen stärker strukturelle Ursachen und institutionelle Hürden zu berücksichtigen sowie Genderwissen und Gleichstellungskompetenz zu verbessern. Also weg vom Prinzip „fixing the women“ und hin zu den Prinzipien „fixing the system“ und „fixing the knowledge“. Weiter ist es notwendig, vermeintliche Zielkonflikte zwischen Exzellenz und Gleichstellung aufzulösen und stattdessen Geschlechtergleichstellung und Diversität als Voraussetzungen für Exzellenz anzuerkennen. Diese Schlussfolgerungen – Berücksichtigung struktureller Ursachen und institutioneller Hürden, Erhöhung der Gleichstellungskompetenz und Reflexion des Exzellenz-Begriffs – lassen sich sicher auch auf andere Förderorganisationen übertragen, um die Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und Forschung zu stärken.
Zur Person
Dr. Andrea Löther ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS) am GESIS Leibniz- Institut für Sozialwissenschaften und hat dort die Analyse „Zugänge, Barrieren und Potentiale für die internationale Mobilität von Wissenschaftlerinnen“ geleitet. Ihr Arbeitsschwerpunkte sind Gleichstellungspolitik an Hochschulen, Gender-Monitoring und Evaluation.